In den vergangenen Jahren hat sich das kombinierte Reithalfter zu einer der am häufigsten verwendeten Zäumung entwickelt. Bei dem Versuch, die Ursachen dafür herauszufinden, habe ich verschiedene Studien gelesen, die ich hier im Original oder auszugsweise weitergebe.
Vielleicht vorab ein paar Begrifflichkeiten:
In dieser Betrachtung behandeln wir die klassischen hannoveranischen und englichen Zäumungen. Auf Besonderheiten der mexikanischen Zäumung, des Micklem und Weiterer wird hier nicht eingegangen.
Als Sperrhalfter wird der Teil des Zaumzeugs bezeichnet, der das Aufsperren des Mauls ab einem gewissen Maß unterbinden soll. Beim hannoveranischen Zaum wird das Sperrhalter unterhalb des Gebiss, beim englichen Zaum oberhalb des Gebiss um den Kiefer des Pferdes geführt. Bei allen Zäumungen ist die sogenannte 2-Finger-Regel einzuhalten, damit das Pferd noch Kauen kann.
Als Sperrriemen wird der Riemen bezeichnet, der beim englichen Zaum zusätzlich unterhalb des Gebiss verschnallt wird. Hier gilt ebenfalls die 2-Finger-Regel.
VFD Positionspapier "Zäumungen": Zum Download: Positionspapier
Nasenriemen müssen gemäß ihrer Bestimmung grundsätzlich nach der 2-Finger Regel verschnallt werden. Die Messung muss auf dem Nasenrücken erfolgen. Um eine Vereinheitlichung zu gewährleisten, wird ein standardisierter (ISES*)-Keil als objektive Messmethode empfohlen. Wird der Nasenriemen enger als die 2-Finger Regel oder zu tief verschnallt, kommt es laut wissenschaftlichen Studien zu Einschränkungen von physiologischen Abläufen. (z.B. Abschlucken, Abschnürungen von Blutgefäßen und Nerven, Einschränkungen des Kauens und der Atmung). Die 2-Finger Regel gilt ebenfalls für evtl. verschnallte Sperrriemen und gebisslose Zäumungen.
http://www.equitationscience.com/ restrictive-nosebands
Kinnriemen und Kinnketten dürfen bei Hebelzäumungen ebenfalls nur so verschnallt werden, dass ihre Wirkung erst eintritt, wenn die Winkelung des Kandarenbaumes zur Maulspalte 45° beträgt. Zu fest, beziehungsweise zu locker verschnallte oder nicht ausgedrehte Kinnriemen und -ketten können zu Verletzungen am Pferdemaul oder Unterkiefer führen. Die Kombination von Hebelgebissen mit Sperr- bzw. Pullerriemen ist aus Tierschutzgründen abzulehnen. Der Einsatz eines Sperrriemens ist grundsätzlich zu überdenken.
Studie zu Stresssymptome der Pferde bei zu engen Nasenriemen:
https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0154179
Heiner Sauter 2017: Es wird viel über seine Entstehungsgeschichte geschrieben, leider immer ohne klare Referenz oder Quellenangabe. Dabei wird er auch gerne geschichtlich mit dem hannoveranischen Sperrhalfter verwechselt. Fakt ist, nach der Durchsicht vieler Bilder von Dragonern, Husaren, Ulanen und weiteren Kavallerieregimentern aus der Zeit bis 1945 war dieser Riemen nirgends zu entdecken. Auch in den typischen Büchern dieser Zeit ist er weder abgebildet noch benannt. Obwohl ihm eine enge Verwandtschaft zum Pullerriemen nachgesagt wird, den Benno von Achenbach schon 1922 beschreibt, ist er in der Historie nicht aufzufinden.
Holger Suel (Mai 2022): Das älteste Bilddokument des Kombinierten Reithalfters mit „Sperrriemen“, das gefunden werden konnte, stammt von den Olympischen Reitwettbewerben 1956 in Stockholm und zeigt den US-amerikanischen Springreiter Frank Chapot deutlich erkennbar mit einem „Kombinierten Reithalfter“. Was aber nie gefunden werden konnte ist eine Dokumentation zu Sinn und Zweck dieser Ausrüstung.
Erst 1979 fand das Kombinierte Reithalfter Eingang in die „Richtlinien für Reiten und Fahren, Bd.1“, ohne dass es konkret näher beschrieben wurde. Seine Funktion lässt sich nur in Verbindung zum Hannoverschen Reithalfter interpretieren, welches an gleicher Stelle beschrieben wird.
Zum Hannoverschen Reithalfter heißt es 1912 in der „Reitvorschrift D.V.E.Nr.12, Seite 17“:
„Sie bezweckt, das bei der Dressur des Pferdes oft vorkommende Aufsperren des Mauls und seitliche Verschieben des Unterkiefers zu verhindern und dadurch das Pferd zu zwingen, nicht nur mit dem Unterkiefer, sondern auch mit dem Genick nachzugeben.“
1979 heißt es in der „Richtline für Reiten und Fahren Bd. 1, Seite 19“:
„Es überträgt den Druck des Gebisses auf das Nasenbein und verhindert das gelegentlich vorkommende Aufsperren des Pferdemaules und das seitliche Verschieben des Unterkiefers. Dadurch wird das Pferd veranlasst, nicht nur den Unterkiefer, sondern auch im Genick nachzugeben.“
In der H.Dv.12 von 1937 und der daraus hervorgehenden „Richtlinie für Reiten und Fahren Bd.1“ von 1953 bis 1978 wurde der Zweck nicht behandelt, aber die korrekte Verschnallung ausführlich beschrieben:
„Der Nasenriemen soll etwa 80mm über dem oberen Nüsternrand liegen, der Kinnriemen nur so eng verschnallt sein, dass das Pferd noch kauen kann.“
Das Zuschnüren des Pferdemauls war nie ein Element der Pferdeausbildung.
Bis 1937 war der Standardzaum ein Zaum ohne Nasenriemen. Für Pferde mit unruhigem Maul war temporär der Einsatz des Hannoverschen Reithalfters vorgesehen, das mit der H.Dv. 12 von 1937 zum Standard-Ausbildungszaum für Remonten wurde, dem nach ca. einem Jahr die Kandare folgte.
Der vielfache Einsatz des „Hannoverschen Reithalfters“ während des 2. Weltkriegs war einzig dem Mangel geschuldet. Nie gab es einen Zusammenhang zu Verletzungen des Unterkiefers. Diese Behauptung geht auf eine kritische Auseinandersetzung von Udo Bürger mit Sperrhalftern (Englisches Reithalfter, Hannoversches Reithalfter) in „Vollendete Reitkunst“, 1959 zurück, die er aber nie belegte und wiederholte! Darin schon warnt er vor dem falschen Zuschnüren des Pferdemauls.
Der „Sperrriemen“ bringt keinen zusätzlichen Nutzen zum Nasenriemen des Englischen Reithalfters, sondern vielmehr verstärkt er die schädliche Wirkung eines falschen, tierschutzwidrigen Einsatzes.
Nachgefragt bei Dr. Peter Witzman, ob er bei seinen Röntgenbildern der Gebisslage im Pferdemaul auch kombinierte Reithalfter verwendet hat.
Die Antwort: Hat er und die Trensen sind auf den Bildern unter aufgenommenen Zügeln von einem Profireiter trotzdem schief. Sperrriemen und Nasenriemen waren korrekt verschallt.
Auszüge aus einer Studie von K. Kienapfel und H. Preuschoft:
Zusammenfassung
Die Praxis der Turnier-orientierten Reiterei widerspricht zunehmend den Postulaten der traditionellen Reitkunst. Die Widersprüche beginnen bereits mit der Verschnallung der Nasenriemen. Überflüssiges Riemenwerk verleitet zu Fehlinterpretationen von dessen Wirkung. Die tatsächliche Auswirkung der meist verwendeten Nasenriemen wird in Versuchen demonstriert und mit mathematischen Methoden erhärtet. Alle Reitlehren fordern für das Pferd die Möglichkeit des „Kauens“ am Gebiss während des Reitens. Kauen, ebenso wie die Aufnahme einer Belohnung ist aber nur möglich, wenn die Kiefer voneinander entfernt werden können. Genau das verhindern zu eng geschnallte Nasenriemen. Maßgeblich ist hierbei der am engsten verschnallte Riemen, wobei es völlig belanglos ist, wo dieser liegt, d.h. ob oberhalb des Gebisses „englisch“ oder unterhalb des Gebisses „hannoversch“ verschnallt. Eine Überprüfung der Weite durch Einschieben von zwei Fingern entlang des knöchernen Nasenrückens unter dem Nasenriemen ist notwendig und zuverlässiger als eine Überprüfung am Unterkiefer. Eine Überprüfung an der Seite des Kopfes ist ohne jeden Informationswert. Geht man von vollständig geschlossenen Zahnreihen aus, so ist eine Lockerung um mindestens 1 Loch erforderlich, um die Schneidezähne mehr als Fingerbreite und die Seitenzähne mehr als 12 mm voneinander zu entfernen.
(...)
Einleitung
Im Reitsport besteht heute die übliche „kombinierte“ Zäumung aus Trense mit einem Nasenriemen, der (wie das englische Reithalfter) zwei Finger breit unter dem Jochbein verschnallt wird und einem so genannten Sperrriemen, der am Nasenriemen befestigt ist und (wie das hannoversche Reithalfter) vor dem Trensengebiss um das Maul herum geführt wird. Der Zweck jedes Reithalfters besteht darin, das Aufsperren des Mauls zu begrenzen, damit sich das Pferd nicht den Zügeleinwirkungen entziehen kann. Leider muss man immer wieder beobachten, dass diese Nasenriemen mit aller Kraft zugeschnürt werden. Das ist nicht nur sinnlos, sondern ein Fall für den Tierschutz. Zudem verstößt das enge Zuschnüren gegen die eindeutigen, theoretisch überall anerkannten Regeln.
In der HDv von 1937 findet sich auf S. 25 die Vorgabe, nach der „der Kinnriemen nur so eng geschnallt sein“ soll, „dass das Pferd noch kauen kann.“ In den Richtlinien für Reiten und Fahren, Band 1 gibt es auf S. 25 die Regel, nach welcher der „Kinnriemen unterhalb des Trensengebisses so geschnallt wird, dass zwischen ihm und den Kieferkörpern im Bereich der Laden des Pferdes etwa zwei Finger breit Platz ist. Die Atmung des Pferdes darf auf keinen Fall eingeschränkt sein.“ Das sind eindeutige Vorschriften, damit dem Tier durch zu festes Verschnallen kein Schaden und kein Leiden i.S. des Tierschutzgesetzes zugefügt wird. Die 2-Finger-Regel läuft auch darauf hinaus, dass das Pferd kauen, d.h. die Schneidezähne wenigstens fingerbreit voneinander entfernen kann. Weil der Unterkiefer sich aus zwei Körpern zusammensetzt, ist es praktisch, die zwei Finger flach auf dem Nasenrücken unter das Reithalfter zu schieben, um den Sitz zu überprüfen. Um sicher zu stellen, dass die Pferde regelgerecht behandelt werden, finden auf großen Turnieren auf dem Abreiteplatz Kontrollen statt.
(...)
Die Kombination aus englischer und hannoverscher Verschnallung des Reithalfters bringt keinerlei messbaren Unterschied gegenüber den einfachen Nasenriemen gleich welcher Form mit sich, sondern ist reine Modesache. Wie Preuschoft et al. (1999) gezeigt haben, besteht der einzige Unterschied zwischen der kombinierten Zäumung und den einfacheren Varianten darin, dass die am Unterkiefer wirkenden Kräfte auf 2 Stellen verteilt und nicht in einem Riemen konzentriert wirken, was aber am Nasenrücken der Fall und auch erwünscht ist.
"Mehr Pferdewohl bei Olympia: Eine Arbeitsgruppe der französischen Nationalversammlung hat Empfehlungen zur Verbesserung des Pferdewohls bei den Olympischen und Paralympischen Spielen 2024 in Paris ausgearbeitet – die Skandale und Missstände von Tokio 2021 sollen und dürfen sich nicht wiederholen, so der Tenor der Verfasser. Empfehlungen unter anderem: - Verbot des Sperriemen - beim Nasenriemen soll ein Abstand von 1,5 cm zwischen dem Nasenriemen und dem Nasenbein eingehalten und mittels ISES-Messkeil kontrolliert werden, im Falle eines Verstoßes ist eine Strafe zu verhängen. - Verbot auf dem gesamten Olympiagelände eine Beugung des Halses, die die Nasenlinie hinter die Senkrechte bringt (,Hyperflexion'). - Verbot der Verwendung von Laufzügeln (Schlaufzügel) auf dem gesamten Olympiagelände Quelle: https://horsesandpeople.com.au/full-report-english-horse-welfare-overhaul-for-paris-2024/ |
Mein persönliches Fazit::
"Warum nutzt du einen Sperriehmen?
Kommen häufig folgende Antworten:
- keine Ahnung, der war an der Trense dran...
- weil es sonst das Maul immer aufsperrt...
- weil ich so mehr Einwirkung aufs Pferd habe
- weil mein Reitlehrern/in gesagt hat der muss ran...
- weil es sonst die Zunge rausstreckt/über das Gebiss nimmt...
Übrigens:
Zur Stabilisation des Gebiss wurde der – heute völlig aus der Mode gekommene – Pullerriemen verwendet.
Dieser an einen Sperrriemen erinnernde Riemen wurde vom Nasenriemen des englichen Reithalfters durch die Trensenringe wieder nach oben zum Nasenrücken geführt und dort verschnallt.
Soweit meine Sammlung zum Sinn oder Unsinn des Sperrriemens.
Bianka Gehlert