Das Buch "Evidenzbasiertes Wildtiermanagement" ist im Januar 2023 erschienen. Das Kapital 9 "Wie lassen sich Nutztierübergriffe durch Wölfe nachhaltig minimieren?" ist eine Literaturübersicht und Empfehlung für Deutschland von Ilka Reinhardt, Felix Knauer, Micha Herdtfelder, Gesa Kluth und Petra Kaczensky

Eine ausführliche Zusammenfassung des Autorenteams:

Mit dem anwachsenden Wolfsbestand nehmen auch die Übergriffe auf Nutztiere in Deutschland von Jahr zu Jahr zu. In einem Punkt sind sich Landwirtschaft, Naturschutz und Politik einig: Wolfsübergriffe auf Nutztiere sollen nachhaltig minimiert werden. Darüber, wie dieses Ziel am besten erreicht werden kann, gibt es jedoch unterschiedliche Ansichten. In der öffentlichen Debatte werden Forderungen nach einem vereinfachten Abschuss von Wölfen oder einer generellen Bejagung immer lauter. Dabei wird davon ausgegangen, dass durch solche Maßnahmen Nutztierschäden durch Wölfe nachhaltig minimiert werden könnten.

Bevor Maßnahmen des Wildtiermanagements angewandt werden, braucht es klare Zielvorgaben. Die erste Frage muss daher lauten: Was ist das primäre Ziel der Managementmaßnahme? Auf Basis wissenschaftlicher Evidenz muss dann vorab evaluiert werden, ob die in Frage kommenden Maßnahmen geeignet sind, das Ziel zu erreichen. Dies ist zwingend, wenn die Maßnahmen auch das Töten von empfindungsfähigen und noch dazu streng geschützten Tieren beinhalten. Um überprüfen zu können, wie wirksam die gewählten Managementmaßnahmen im konkreten Einsatz sind, werden Kriterien zur Bewertung des Erfolgs benötigt.
In diesem Kapitel gehen wir der Frage nach, welche Managementmaßnahmen nach aktuellem Wissensstand geeignet sind, das Ziel, Wolfsübergriffe auf Nutztiere nachhaltig zu minimieren, zu erreichen. Wir erläutern zunächst, warum Wölfe Nutztiere töten und ob es einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Wölfe und der Höhe der Nutztierschäden gibt. Dafür untersuchen wir unter anderem die Daten von Wolfsübergriffen auf Nutztiere in Deutschland. Anhand einer umfangreichen Literaturübersicht analysieren wir, ob die folgenden Managementmaßnahmen geeignet sind, Wolfsübergriffe auf Nutztiere nachhaltig zu minimieren:

  1. eine generelle Bejagung von Wölfen,
  2. die selektive Entnahme von einzelnen schadensverursachenden Wölfen und
  3. nicht-letale Herdenschutzmethoden.

Abschließend legen wir Empfehlungen zu einem evidenzbasierten und lösungsorientierten Wolfsmanagement in Bezug auf den Wolf-Nutztierkonflikt vor.

In Deutschland steigen mit der Zunahme der Wolfsterritorien auch die Übergriffe auf Schafe und Ziegen. Allerdings unterscheidet sich die Stärke des Anstiegs zwischen den Bundesländern erheblich. Einzelne Bundesländer erreichen bei der gleichen Anzahl an Wolfsterritorien sehr unterschiedliche Schadensniveaus. Dies deutet darauf hin, dass das Ausmaß der Schäden nicht allein durch die Anzahl der Wölfe bestimmt wird. Wir vermuten, dass die Unterschiede im Schadensniveau vor allem in der unterschiedlichen Umsetzung von Herdenschutzmaßnahmen in den einzelnen Bundesländern begründet sind.

Die Ergebnisse der Literaturrecherche bezüglich der Wirksamkeit von letalen und nicht-letalen Managementmaßnahmen zum Schutz von Nutztieren zeigen klar:

Eine generelle Bejagung von Wölfen führt nicht zu einer Reduktion von Nutztierschäden. Es gibt keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass durch eine Bejagung die Schäden deutlich und nachhaltig verringert werden, es sein denn, der Bestand wird drastisch reduziert oder ganz ausgelöscht. Das ist in Deutschland und in der Europäischen Union bei aktueller Rechtslage nicht möglich. Im Gegensatz zu einer undifferenzierten Bejagung des Wolfs kann der gezielte Abschuss von Einzeltieren wirksam sein, wenn es sich tatsächlich um Individuen handelt, die gelernt haben, empfohlene funktionstüchtige Schutzmaßnahmen zu überwinden. Allerdings sind solche Fälle selten, und es ist schwierig in der freien Natur, ein bestimmtes Individuum sicher zu identifizieren und zu töten. Nicht-letale Herdenschutzmaßnahmen sind im Vergleich zu letalen Maßnahmen deutlich besser geeignet, eine nachhaltige Reduktion der Schäden zu erreichen. Der einzige Weg, um in Koexistenz mit Wölfen eine dauerhafte Reduktion von Schäden an Nutztieren zu erreichen, ist die fachgerechte Umsetzung von Herdenschutzmaßnahmen in breiter Fläche. Übergriffe auf Nutztiere lassen sich zwar auch dadurch nicht vollständig verhindern, sie können jedoch durch korrekt angewandte Herdenschutzmaßnahmen deutlich reduziert werden.

Das Wissen, wie Schäden an Weidetieren durch Herdenschutzmaßnahmen verringert werden können, ist auch in Deutschland vorhanden. Viele Tierhaltende haben hier inzwischen ein hohes Maß an Fachkompetenz entwickelt. Die Erfahrung aus den vergangenen 20 Jahren zeigt allerdings auch, dass die Auszahlung von Fördergeldern für Herdenschutzmittel allein nicht ausreicht, um die Anzahl der Übergriffe deutlich zu senken. Es muss auch gewährleistet werden, dass die fachliche Expertise für die korrekte Anwendung und Wartung zur Verfügung steht. Vor allem in Gebieten mit Prädations-Hotspots sollte aktiv auf die Tierhaltenden zugegangen werden und sollten die Gründe für die vermehrten Übergriffe analysiert und abgestellt werden.

Bisher fehlen aus Deutschland Daten zur Funktionstüchtigkeit der geförderten und im Einsatz befindlichen Schutzmaßnahmen. Solche Daten sind notwendig, um zu verstehen, warum trotz steigender Präventionsausgaben die Nutztierschäden teilweise auch in Gebieten mit jahrelanger Wolfspräsenz nicht zurückgehen. Sie sind zudem die Grundlage für wissenschaftliche Studien zu möglichen Unterschieden in der Wirksamkeit verschiedener Herdenschutzmethoden. Daten zur Funktionstüchtigkeit von geförderten Herdenschutzmaßnahmen sollten zumindest stichprobenartig gesammelt werden, unabhängig davon, ob es in dem jeweiligen Gebiet Wolfsübergriffe gibt. Neben der Untersuchung der rein technischen Aspekte des Herdenschutzes ist es ebenso wichtig herauszufinden, wie die Akzeptanz gegenüber Herdenschutzmaßnahmen bei den Tierhaltenden verbessert und deren Eigenmotivation erhöht werden kann. Hierfür sind Daten zur Umsetzbarkeit und Akzeptanz der eingesetzten Herdenschutzmaßnahmen erforderlich. Nutztierhaltende sollten schon in die Konzeption entsprechender Studien mit eingebunden werden, um sicherzustellen, dass die Fragen untersucht werden, deren Beantwortung für sie am dringendsten ist.

Der Weg von einem emotionsbasierten zu einem evidenzbasierten Wolfsmanagement führt über wissenschaftlich robuste Daten und Analysen. Entsprechende Untersuchungen sind nur in enger Zusammenarbeit zwischen Weidetierhaltung und Wissenschaft möglich. Basierend auf der Fachkompetenz und den praktischen Erfahrungen der Weidetierhaltenden kann die Wissenschaft helfen, die Herdenschutzmaßnahmen zu identifizieren und weiterzuentwickeln, die Nutztierübergriffe am effektivsten reduzieren.

978 3 662 65745 4 9 3Die auf Basis der realen Wolfs- und Schadenszahlen in einem Modell geschätzte durchschnittliche Entwicklung der Übergriffe auf Schafe/Ziegen in Abhängigkeit von der Anzahl der Wolfsterritorien pro Bundesland (A) und die Anzahl der Übergriffe auf Schafe pro Wolfsterritorium in den einzelnen Bundesländern (gestrichelte Linie = modellgeschätzte durchschnittliche Anzahl Übergriffe in den fünf wolfreichsten Bundesländern) (B)

Fazit: Übergriffe von Wölfen auf Nutztiere werden am effektivsten durch die korrekte Umsetzung von nicht-letalen Herdenschutzmaßnahmen nachhaltig verhindert. Die aktuellen Wolfsverordnungen einiger Bundesländer konzentrieren sich im Kontext von Nutztierschäden jedoch vor allem darauf, wann die in den Ländern geltenden Kriterien für einen Abschuss erfüllt sind (BbgWolfVO 2018; SächsWolfMVO 2019; NWolfVO 2020). Allerdings entsprechen diese Abschusskriterien überwiegend nicht den hier erläuterten Voraussetzungen für selektive Abschüsse. Wie anhand der wissenschaftlichen Evidenz aufgezeigt wurde, ist damit den Tierhaltenden nur selten geholfen, insbesondere wenn nicht die schadensverursachenden Tiere erlegt werden. Solche Maßnahmen, wie auch eine immer wieder geforderte generelle Bejagung, mögen vielleicht ein probates Mittel sein, um politischem Druck zu begegnen, sie sind jedoch nach Auswertung der wissenschaftlichen Literatur keine wirksamen Maßnahmen, um Übergriffe auf Nutztiere zu minimieren und den betroffenen Weidetierhaltenden wirklich zu helfen.

Reinhardt, I., Knauer, F., Herdtfelder, M., Kluth, G., Kaczensky, P. (2023). Wie lassen sich Nutztierübergriffe durch Wölfe nachhaltig minimieren? – Eine Literaturübersicht mit Empfehlungen für Deutschland. In: Voigt, C.C. (eds) Evidenzbasiertes Wildtiermanagement. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-65745-4_9

Diese Open-Access-Publikation hat das Spannungsfeld zwischen Menschen und Wildtieren, die sich ihren Lebensraum teilen, zum Thema. Dies kann zu Konflikten führen, die wirksamen Managementmaßnahmen erfordern. Einerseits müssen anthropogene Störfaktoren für bedrohte und geschützte Wildtiere reduziert und Ausgleichsmaßnahmen entwickelt werden, damit sich die Bestände erholen. Stellt sich die Frage, ob die Populationen einiger Wildtierarten reguliert werden müssen, um Schäden für Mensch und Natur abzuwenden.

Welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden, sollten aus deren Notwendigkeit und nachgewiesener Wirksamkeit abgeleitet werden. Dazu sind Erkenntnisse aus Forschung und praktischem Wildtiermanagement erforderlich. 

Führende Wildtierexperten stellen den jeweiligen Wissensstand in ihrer Fachdisziplin dar oder schlagen neue konzeptionelle Wege vor, um innovative Managementmaßnahmen zu erproben. Das Buch richtet sich sowohl an Forschende als auch an Fachleute und Beschäftigte von Behörden und Naturschutzverbänden.

Buch ISBN: 978-3-662-65744-7

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